Rechtsgutachten
Wie Arbeitnehmende den Einsatz von Algorithmen an ihrem Arbeitsplatz beeinflussen können – eine rechtliche Perspektive
Vermehrt kommen an Arbeitsplätzen in der Schweiz algorithmische Systeme zum Einsatz. Unternehmen müssten gemäss geltendem Recht ihre Angestellten in gewissen Situationen einbeziehen. Dies passiert jedoch oft nicht. Das vorliegende Rechtsgutachten zeigt auf, welche Rechte die Arbeitnehmenden und welche Pflichten die Arbeitgeber haben, wenn es um die Beteiligung der Mitarbeitenden geht, welche Lücken es im rechtlichen Rahmen gibt und wie diese geschlossen werden könnten.
Übersicht
- Wie werden algorithmische Systeme am Arbeitsplatz heute eingesetzt?
- Wie sieht der aktuelle gesetzliche Rahmen aus?
- Welchen Handlungsbedarf gibt es, den gesetzlichen Rahmen anzupassen?
- Welche ethischen Aspekte müssen berücksichtigt werden?
Schweizer Unternehmen setzen vermehrt auf den Einsatz von automatisierten Entscheidsystemen (Automated Decision Making oder ADM-Systeme) oder algorithmischen Systemen am Arbeitsplatz. Diese Systeme werden zum Beispiel in der Rekrutierung, zur Überwachung der Mitarbeitenden oder zur Steuerung von Prozessschritten eingesetzt. Oft werden Mitarbeitende jedoch nicht miteinbezogen - ob bei der Planung, Umsetzung oder beim Betrieb dieser Systeme.
Prof. Dr. Isabelle Wildhaber, LL.M. und Dr. Isabel Ebert vom Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitswelten an der Universität St. Gallen (FAA-HSG) haben im vorliegenden Rechtsgutachten aufgearbeitet, wie die Beteiligung der Mitarbeitenden beim Einsatz von algorithmischen Systemen aktuell gesetzlich geregelt ist. Sie zeigen auch auf, welcher gesetzliche Handlungsbedarf besteht, und beleuchten nebst den rechtlichen auch die relevanten ethischen Aspekte. Das Rechtsgutachten wurde im Rahmen des Projekts «Analytics for the People? Was Algorithmen am Arbeitsplatz für Rechte und Mitbestimmung bedeuten» von AlgorithmWatch CH und syndicom in Auftrag gegeben.
Wie werden algorithmische Systeme am Arbeitsplatz heute eingesetzt?
Der Bericht bereitet den Kontext des Rechtsgutachtens basierend auf zwei empirischen Datenerhebungen bei Schweizer Unternehmen und qualitativen Fallstudien bei fünf Schweizer Grosskonzernen auf. Während die Nutzung algorithmischer Systeme bei Schweizer Unternehmen schon weit verbreitet ist und gemäss den durchgeführten Umfragen von 2018 auf 2020 auch zugenommen hat, zeigen sich bei der Beteiligung der Mitarbeitenden diverse Problemfelder, wie beispielsweise:
- Information: Die Mitarbeitenden werden nicht breit und verständlich über den Einsatz von ADM-Systemen informiert, was dazu führt, dass Mitarbeitende sich überrumpelt fühlen, wenn diese eingeführt werden. Alternativ dazu können Unternehmen Kampagnen lancieren, die Mitarbeitende beispielsweise zum Umgang mit ihren Daten informieren und sensibilisieren.
- Konsultation: Nur informierte Mitarbeitende können in einen Konsultationsprozess involviert werden. Mitspracheprozesse sind jedoch oft nicht formalisiert und/oder passieren nur im Rahmen der Pilotphase.
- Verantwortungszuschreibung: Durch den Einsatz von ADM-Systemen kann es zu einer Verantwortungsdiffusion kommen – Führungspersonen fühlen sich nicht für automatisierte Entscheide verantwortlich, die Mitarbeitenden sehen die Verantwortung aber weiterhin bei den Führungspersonen.
- Lernkultur vs. Sanktionskultur: Die Art und Weise, wie Technologien am Arbeitsplatz genutzt werden, hat einen Einfluss darauf, ob sie befähigend (Daten und Analysen können genutzt werden, um sich zu verbessern) oder bestrafend sind (die Mitarbeitenden werden basierend auf Daten und Analysen sanktioniert).
Wie sieht der aktuelle gesetzliche Rahmen aus?
Der Einsatz von algorithmischen Systemen am Arbeitsplatz und die Beteiligung der Arbeitnehmenden werden durch verschiedene gesetzliche Grundlagen geregelt, insbesondere:
- Mitwirkungsrecht
- Arbeitsrecht
- Datenschutzrecht
- Gesundheitsschutz
- Diskriminierungsschutz
So regelt der Datenschutz die Einwilligung auf individueller Ebene, wenn Arbeitgeber personenbezogene Daten ihrer Mitarbeitenden nutzen. Arbeitgeber müssen etwa bei den Mitarbeitenden eine Einwilligung einholen, wenn ihre personenbezogenen Daten verwendet werden. Dies muss zweckgebunden erfolgen.
Das Mitwirkungsgesetz regelt grundlegende Ansätze zur Mitwirkung der Mitarbeitenden auf betrieblicher Ebene, genauer die Information und Konsultation. Die Betriebsverfassung ist im Schweizer Recht eine grundlegende Ordnung für die Beteiligung der Mitarbeitenden. Sie regelt die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und der Interessenvertretung der Arbeitnehmenden. Mitbestimmungsrechte können zusätzlich in Gesamtarbeitsverträgen, auf Unternehmensebene, aber auch in Spezialgesetzen geregelt werden.
Das Mitwirkungsgesetz definiert die betriebsinterne Arbeitnehmendenvertretung, das kollektive Organ der Belegschaft eines Betriebs. Gewerkschaften sind die überbetriebliche Interessensvertretung der Mitarbeitenden. Wo es keine Arbeitnehmendenvertretung gibt, haben Mitarbeitende ein individuelles Recht auf Mitwirkung:
- Recht auf Information: Dies ist die Grundvoraussetzung für weitergehende Formen der Mitwirkung – Mitarbeitende müssen über Angelegenheiten informiert werden, die sie für die Erfüllung ihrer Aufgaben wissen müssen. Zusätzlich gibt es datenschutzrechtliche Informationsrechte auf individueller Ebene.
- Recht auf Mitsprache: Dies gilt insbesondere in allen Fragen des Gesundheitsschutzes. ADM-Systeme, die zur Überwachung eingesetzt werden können, sollten in diese Kategorie fallen, vielleicht auch grundsätzlich alle ADM-Systeme. Dann hätten Mitarbeitende entsprechende Mitwirkungsrechte, um die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit zu reduzieren.
- Mitentscheidungsrechte: Diese gibt es nur in Bezug auf gewisse Themen (z.B. Sonntagsarbeit) – dort hat die Arbeitnehmendenvertretung ein Zustimmungsrecht oder ein Vetorecht.
Ein wichtiger Grundsatz ist, dass auf kollektive Mitwirkungsrechte nicht durch individuelle Einwilligungen verzichtet werden kann. Mitsprache und Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz sollten kollektiv erfolgen, damit Individuen, die beispielsweise Einsprache erheben, nicht einem Kündigungsrisiko ausgesetzt sind. Die bestehenden kollektiven Ansprüche auf Mitwirkung sind jedoch kaum bekannt und werden entsprechend wenig angewendet, wie auch der empirische Teil des Rechtsgutachtens zeigt.
Welchen Handlungsbedarf gibt es, den gesetzlichen Rahmen anzupassen?
Gemäss dem Rechtsgutachten gibt es in der geltenden Rechtslage diverse Lücken. Bei der Beteiligung der Arbeitnehmenden und Arbeitnehmendenvertretungen sind dies beispielsweise:
- Fehlende Sanktionen
- Kündigung der Arbeitnehmendenvertretung ist aus wirtschaftlichen Gründen möglich
- Es ist unklar, ob alle ADM-Systeme, die zur Überwachung genutzt werden können, einen Gesundheitsbezug haben und entsprechend der Mitwirkung unterliegen
- Unklares Klagerecht der Arbeitnehmendenvertretung
Auch bei den Einsprachemöglichkeiten zeigt das Rechtsgutachten diverse Lücken auf:
- Die individuelle Rechtsdurchsetzung ist schwierig, da bei Überwachung und Diskriminierung oftmals unklar ist, welche Individuen betroffen sind. Aber auch wenn sie identifiziert werden können, sind die vorhandenen Instrumente oft nicht ausreichend oder passend (beispielsweise, weil der Streitwert für eine Einzelperson zu tief ist)
- Die kollektive Rechtsdurchsetzung ist ebenfalls eher schwach – Arbeitsinspektorate schreiten erst ein, wenn es bereits gesundheitsschädigende Auswirkungen gibt, die prozessrechtlichen Barrieren für mitwirkungsrechtliche Klagen sind zu hoch und bei Verstössen gibt es meist keine Sanktionen
Die Analyse im Rechtsgutachten zeigt verschiedene Varianten auf, wie diese Lücken geschlossen werden können. Diese nicht abschliessende Liste beinhaltet Vorschläge für folgende Bereiche:
- Verstärkung der Rechte der Arbeitnehmendenvertretungen und -verbände (Gewerkschaften) um Arbeitgeber zu verpflichten, über den Einsatz von ADM-Systemen kollektiv zu informieren
- Verbesserung der Mitsprachemöglichkeiten der Arbeitnehmenden und ihren Vertretungen in Bezug auf ADM-Systeme
- Verbesserung der Strukturen zur Aufsicht und Kontrolle
Nebst Gesetzesrevisionen zur Garantie von Mindestrechten können besonders auch weitergehende Lösungen im Rahmen der Sozialpartnerschaft angestrebt werden. So könnten zum Beispiel im Rahmen der Gesamtarbeitsverträge die kollektiven Interessen der Mitarbeitenden beim Einsatz von ADM-Systemen am Arbeitsplatz vermehrt aufgenommen werden.
Welche ethischen Aspekte müssen berücksichtigt werden?
Der Einsatz algorithmischer Systeme am Arbeitsplatz muss nicht nur durch den gesetzlichen Rahmen geregelt werden. Arbeitgeber können sich auch an ethischen Prinzipien orientieren. Der Bericht detailliert in mehreren Bereichen die ethische Perspektive:
- Datenerhebung und Datenauswertung: Wie die Fallstudien zeigen, ist die Einbindung der Arbeitnehmenden für die Akzeptanz der algorithmischen Systeme relevant. Arbeitgeber könnten deshalb in diesem Bereich über den rechtlichen Rahmen hinausgehen, wenn es um Berücksichtigung der Bedenken und Kritik der Mitarbeitenden zur Nutzung ihrer Daten geht. Dies kann dazu beitragen, dass die erhobenen Daten auch brauchbar sind.
- Datenschutz: Arbeitgeber könnten über die datenschutzrechtlichen Bestimmungen hinausgehen und ein weitergehendes Recht auf Schutz der Privatsphäre als Grundlage nehmen, und die Mitarbeitenden entsprechend stärker einbeziehen.
- Überwachung: Aus ethischer Sicht ist es auch im Interesse der Arbeitgeber, die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeitenden nicht mit unnötigen Überwachungsmassnahmen zu belasten. Psychisch und physisch gesunde Mitarbeitende fehlen weniger, können mehr leisten und produktiver sein.
- Diskriminierungsschutz: Die aktuellen diskriminierungsschutzrechtlichen Bestimmungen sind unzureichend, um die Diskriminierungsrisiken, die von ADM-Systemen am Arbeitsplatz ausgehen, anzugehen. Arbeitgeber sollten deshalb sicherstellen, dass verwendete Datensätze repräsentativ sind, um negative Folgen für bestimmte Individuen und Gruppen zu reduzieren.
Zudem führt der Bericht folgende ethischen Analyseschwerpunkte beim Einsatz von ADM-Systemen am Arbeitsplatz auf, die Arbeitgeber berücksichtigen sollten:
- Tiefgehende Einblicke in die Privatsphäre und mögliche Überwachung von Austausch/Organisierung unter Arbeitnehmenden
- Frühzeitige Information und Konsultation der Mitarbeitenden
- Datenkompetenz / data literacy der Arbeitnehmenden
- Datentransparenz zur Ermöglichung der Mitwirkung
- Aufklärung über den Anwendungsbereich der ADM-Systeme gegenüber den Mitarbeitenden
- Vermeidung von «Black-Box-Systemen»
Eine Sorgfaltsplicht der Arbeitgeber im Kontext von ADM-Systemen am Arbeitsplatz, in Anlehnung an die UN Guiding Principles on Business and Human Rights UNGPs, wäre ebenfalls eine mögliche Lösung. Dies würde folgende vier Schritte umfassen:
- Identifizieren und Bewerten von Auswirkungen, um Art und Ausmass von Menschenrechtsrisiken abzuschätzen (z.B. in Form einer Folgenabschätzung), was auch einen kollektiven Konsultationsprozess der Mitarbeitenden beinhalten würde
- Handeln zur Vorbeugung und Minderung von menschenrechtlichen Risiken, auch durch Integration in interne Funktionen und Prozesse
- Verfolgung der Wirksamkeit von Massnahmen zur Risikominderung im Laufe der Zeit, durch Wirkungsmessung und Prüfung der Angemessenheit, sowie Feedback an Stakeholder wie Arbeitnehmende
- Angemessene Kommunikation der Massnahmen im Hinblick auf die Bewältigung menschenrechtlicher Auswirkungen, z.B. Veröffentlichung der Folgeabschätzung
Entstanden ist diese Publikation im Rahmen des Projekts Analytics for the People? Was Algorithmen am Arbeitsplatz für Rechte und Mitbestimmung bedeuten.
Projektpartner: