Meinungsbeitrag in Le Temps: Warum es für die digitale Freiheit uns alle ganz analog braucht

Für Anna Mätzener von AlgorithmWatch Schweiz muss sich die Zivilgesellschaft für mehr Transparenz bei der Verwendung von Algorithmen einsetzen, damit die digitale Freiheit auch unsere Freiheiten in der realen spiegelt.

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9. August 2022

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Nahmen die Technologie noch selbst in die Hand: Telefonistinnen in den 1940er-Jahren.

Autorin

Dr. Anna Mätzener
Leiterin AlgorithmWatch Schweiz
Nahmen die Technologie noch selbst in die Hand: Telefonistinnen in den 1940er-Jahren.

Vor kurzem habe ich mich dazu entschieden, den Handy-Anbieter zu wechseln. Das konnte ich sofort, es war spätabends, von meinem Laptop aus machen. Ich musste weder in einem Laden oder an einem Schalter vorbei, um meinen Ausweis zu zeigen, noch ein Formular auf Papier unterschreiben. Denn: die Technologie in Form von Algorithmen macht es möglich, dass es genügt, wenn ich zur Verifizierung meiner Identität mein Gesicht und meinen Ausweis vor die Kamera des Laptops halte – die automatische Gesichtserkennung «sieht» mein Foto und die Texterkennung «liest» meine persönlichen Daten wie Namen und Geburtsdatum. Das ist wunderbar, da ich ja so mein Sofa im Prinzip gar nie wieder verlassen muss – was mir Freiheit gibt, Dinge dann zu erledigen, wann ich das möchte. Es ist absolut faszinierend, dass das technisch möglich ist. Und es ist auch ein bisschen unheimlich, weil man ehrlich gesagt gar nicht so recht weiss, wie das genau funktioniert, wo diese Bilder hingeschickt werden und wie sie verarbeitet und aufbewahrt werden. Das fühlt sich ein bisschen weniger nach Freiheit an. Zudem geht das nur so lange gut, wie die dahinterstehende Software zuverlässig arbeitet, Gesichter korrekt einordnet und Text richtig erfasst und weiterverarbeitet. Auch das klingt nicht nach Freiheit.

Leider ist es ja tatsächlich nicht immer so, dass das gut funktioniert: Frauen und Personen mit dunkler Hautfarbe werden laut wissenschaftlichen Studien überdurchschnittlich oft nicht oder falsch erkannt, Text kann nur dann automatisch verarbeitet werden, wenn das Formular auch wirklich passt und man beispielsweise dran gedacht hat, dass es durchaus Namen gibt, die nur aus zwei Buchstaben bestehen. In solchen Fällen wird die Freiheit der betroffenen Person klar eingeschränkt. Dabei geht es nicht «nur» (wie im beschriebenen Beispiel) um Bequemlichkeit, sondern es kann durchaus auch deutlich gravierender sein, sodass wir in unseren Grundrechten eingeschränkt werden. Ich denke hier beispielsweise an die Vergabe von Sozialhilfe, Krediten oder von Stellen aufgrund von algorithmenbasierten Entscheidungen.

Es wäre natürlich wünschenswert und wichtig, diesen Missstand zu beheben – ohne auf die Technologie verzichten zu müssen. Dabei reicht es nicht, den Algorithmus einfach «besser» zu machen: Jeder Algorithmus «lernt» aufgrund von historischen Daten. Mit statistischen Methoden werden Prognosen gemacht. Die analoge (und digitale!) Vergangenheit lässt sich nicht einfach so mit noch besserer Technologie wegwischen. Die Einschränkungen in der Freiheit über Jahrhunderte, welche Frauen, Menschen dunkler Hautfarbe und anderen Gruppen erleben mussten, werden ohne dass irgendjemand das möchte, in der digitalen Welt weitergeführt. Gleichzeitig ist es auch denkbar, dass die digitale Welt und die in ihr getroffenen Entscheidungen unsere analoge Welt ebenso beeinflussen – oder sogar beeinträchtigen. 

Daher braucht es für eine echte Veränderung nicht nur die Arbeit an der digitalen Freiheit, sondern an der Freiheit an sich. Je freier alle Menschen in der Welt sind, umso freier sind wir es auch in der digitalen Welt – auch wenn es aufgrund der Verwendung von historischen Daten als Basis für algorithmische Entscheidungen in der digitalen Welt dabei leider immer wieder zu Verzögerungen kommt. Beide Welten profitieren voneinander gegenseitig, aber beeinträchtigen sich auch. 

Für die Freiheit setzen sich seit langer Zeit verschiedene Gruppen und Menschen ein: Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, die breite Öffentlichkeit, Wirtschaft und die Zivilgesellschaft. Denn: offensichtlich kann niemand alleine den Zustand erreichen, in dem alle Menschen in Freiheit leben. Es ist keine einfache Aufgabe.

Genau gleich verhält es sich mit der digitalen Freiheit. Hier haben wir zusätzlich und erschwerend die Situation, dass sich noch weniger Personen als in der analogen Welt bewusst sind, dass wir nicht alle einfach frei sind. Umso wichtiger ist es, dass alle am gleichen Strick ziehen. Es braucht viel Aufklärungsarbeit und auch Engagement. Dabei müssen Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Medien und die breite Öffentlichkeit zusammenarbeiten, um zu erreichen, dass die Technologie so eingesetzt wird, dass sie allen nützt und niemandem schadet. Das ist das übergeordnete Ziel. Der Zivilgesellschaft kommt eine besondere Rolle zu, da sie die Möglichkeit und die Aufgabe hat, laut zu sein und Missstände aufzuzeigen – aber auch Brücken zu schlagen zwischen den verschiedenen Stakeholdern. Es braucht sie, und es braucht genauso das Bewusstsein, dass die Zivilgesellschaft für dieses Thema wichtig ist (sprich: sie braucht auch Geld für ihre Arbeit). 

Was bedeutet das konkret? Was können wir tun? Zunächst einmal geht es darum, Wissen zu sammeln. Ohne Wissen kann man keine freien Entscheidungen treffen und die Freiheit ist damit eingeschränkt. Dabei geht es einerseits um wissenschaftliche Forschung und journalistische Recherche: wo kommen Algorithmen überall zum Einsatz? Was sind die Folgen? Leider ist es viel zu oft so, dass nicht einmal klar ist, ob Algorithmen zum Einsatz kommen oder nicht. Damit ist dann natürlich auch nicht klar, wie sie funktionieren, ob und wie sie der Gesellschaft möglicherweise schaden, indem sie unsere Freiheit einschränken. Zudem verwehren beispielsweise die Betreiber von grossen Plattformen der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft den Zugang zu ihren Daten, sodass völlig unklar bleibt, was für Auswirkungen die dort verwendeten Algorithmen auf unser Leben und unsere Freiheit haben. Eine gesetzliche Verpflichtung, diesen Zugang zu gewähren, könnte Abhilfe schaffen. Politiker*innen können dieses Anliegen unterstützen. Aber auch in der öffentlichen Verwaltung kommen Algorithmen zum Einsatz: auch hier ist leider nicht immer klar, ob und wo sie zum Einsatz kommen oder wohin man sich wenden kann, wenn etwas nicht so wie vorgesehen funktioniert. Ein öffentlich zugängliches Register wäre hier ein erster Schritt in die richtige Richtung – auch diese Forderung kann von Politiker*innen zur Umsetzung gedrängt werden. Durch Kampagnen kann die Zivilgesellschaft einerseits die Öffentlichkeit aufklären. Andererseits kann sie aber auch ganz konkrete Forderungen in den Raum und damit in den öffentlichen Diskurs stellen – so kann z.B. ein Verbot von automatisierter Gesichtserkennung im öffentlichen Raum gefordert werden. 

Das sind nur einige Beispiele, es gibt natürlich noch viel mehr zu tun. Wichtig ist die ganz zentrale Frage, die immer an erster Stelle stehen sollte: ist der Einsatz von Technologie wirklich die einzige und beste Lösung für die aktuelle Aufgabe oder das Problem? In vielen Fällen kann diese Frage durchaus auch von uns allen beantwortet werden: nur weil man etwas digital lösen kann, muss man das ja nicht immer – so frei sind durchaus in einigen Fällen. Wollen wir, dass die Technologie die Lösung für das aktuelle Problem ist? Wir haben durchaus die Freiheit, als Gesellschaft hier an gewissen Stellen «Nein» zu sagen.

Insgesamt ist klar: nur wir alle zusammen können die digitale Freiheit erreichen. Und das sollte immer und für alle das Ziel sein.

Der Beitrag erschien auf Französisch in Le Temps vom 18. August 2022.