Kennt der Supermarkt Ihr Gesicht?

Immer mehr intelligente Videokameras erkennen Gesichter und führen automatische Analysen durch. Von aussen ist das jedoch nicht zu erkennen. Kommt dies im öffentlich zugänglichen Raum auch in der Schweiz zum Einsatz?

Sie sind in fast jedem Zug und Bus, hängen im Supermarkt von der Decke, bewachen die Eingänge von Stadien und nehmen öffentliche Plätze ins Visier: Überwachungskameras. Immer öfter sind die Geräte mit Analysesoftware ausgestattet, die Gesichter, unterschiedliche Objekte oder unsere Gangart erkennen können. Von aussen ist das aber nicht ersichtlich. Ob die Aufnahmen auch ausgewertet werden, bleibt im Verborgenen. AlgorithmWatch wollte sich einen Überblick über die Situation in der Schweiz verschaffen – und stiess auf eine Mauer des Schweigens.

Der naheliegende Ausgangspunkt der Recherche ist die Polizei. Immer wieder macht sie in der Schweiz mit Initiativen zur automatisierten Gesichtserkennung auf sich aufmerksam. So gab es Experimente, Kameras direkt in Patrouillenfahrzeuge zu integrieren. Und auf dem Posten der Kantonspolizei Aargau geht man mit entsprechender Software auf «digitale Verbrecherjagd» – auch bei harmlosen Vergehen wie Taschendiebstähle. Bei der Kantonspolizei St. Gallen wurden fünf Systeme getestet. Seither kommt die Software «Mediasearch» bei «schweren Tatbeständen zum Einsatz».

Dabei gibt es weltweit Initiativen, automatisierte Gesichtserkennung zu verbieten oder zumindest stärker zu regulieren. Denn die Massnahme bedeutet einen schweren Eingriff in die Privatsphäre und hält Menschen mitunter davon ab, ihre Grundrechte – z.B. Meinungsäusserungsfreiheit oder Versammlungsfreiheit – wahrzunehmen. Darüber hinaus hat die Technologie mit diversen algorithmischen Problemen zu kämpfen, die zu Diskriminierung führen. So werden nicht-weisse und nicht-männliche Gesichter schlechter erkannt. In der Schweiz sieht der Bundesrat jedoch keinen Handlungsbedarf, den Einsatz stärker zu regulieren.

Das ist ein Problem, denn insbesondere bei kantonalen Behörden wie der Polizei besteht Spielraum, in welchen Situationen Gesichtserkennung erlaubt ist und entsprechend angewendet werden könnte. Das neue Datenschutzgesetz gilt für kantonale Behörden nämlich nicht – wobei teilweise umstritten ist, ob entsprechende kantonale Gesetze für den Einsatz von Gesichtserkennung ausreichend sind. Immerhin hält der Bundesrat fest, dass ein «verdachtsunabhängiger Einsatz, beispielsweise eine automatisierte und systematische Identifizierung von Personen in Echtzeit via Überwachungskamera» nicht zulässig sei. Ein gutes Zeichen, doch wird das auch eingehalten?

Die undurchdringliche Blackbox

Die meisten Überwachungskameras werden nicht von der Polizei eingesetzt, sondern im öffentlich zugänglichen Raum – in Stadien, Bahnhöfen, Einkaufszentren und sonstigen Geschäften. Verantwortlich dafür sind private Unternehmen und öffentliche Behörden wie Verkehrsbetriebe oder Schulen, die sich ans Datenschutzgesetz halten müssen. Doch es ist unbekannt, ob das dabei anfallende Videomaterial mit Gesichtserkennung oder anderen Analysetools ausgewertet wird. Was in den Hinterzimmern geschieht, wird nur selten publik.

So wurde in Spanien jüngst die Ladenkette Mercadona für den Einsatz von Gesichtserkennung gebüsst. Und in den Niederlanden wurde aus dem gleichen Grund gegen ein Jumbo-Geschäft ermittelt. Gleichzeitig wurden in der Schweiz in TopCC-Filialen innert eines Jahres über 10 Millionen Kund·innen-Trackings gesammelt, um Werbeanzeigen zu optimieren. Und in mehrere Filialen der Migros wird mit intelligenten Kamerasystemen experimentiert.

Weil es keine systematische Analyse davon gibt, welche Überwachungssysteme genutzt werden, wollte AlgorithmWatch von grösseren Schweizer Unternehmen wissen, wo automatisierte Gesichtserkennung und andere intelligente Kamerasysteme zum Einsatz kommen.

Doch die Medienstellen waren alles andere als auskunftsfreudig. Viele weigerten sich, unsere Fragen zu beantworten – darunter bekannte Grössen wie Coop oder Shopping Malls wie Glatt, Emmen Center, Shoppyland und Sihlcity mit insgesamt über 24 Millionen Besuchen pro Jahr. Fast die Hälfte der analysierten Firmen reagierten gar nicht – darunter etliche Stadionbetreiber, die Flughäfen Bern und Basel, sowie grössere Sportdetailhändler wie Decathlon und Ochsner Sport.

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So bleibt der Einsatz von umstrittenen Überwachungstechnologien im halböffentlichen Bereich eine gefährliche Blackbox. Die antwortenden Firmen hielten sich fast ausnahmslos sehr bedeckt und begründeten ihre Zurückhaltung mit «sicherheitstechnischen Überlegungen». Offenbar will man nicht preisgeben, wie die eigene Kundschaft überwacht wird.

Andernorts setzt man auf die Abschreckungswirkung von Überwachung. In Schweizer Sportstadien wird mittlerweile offen über den Einsatz von Gesichtserkennung nachgedacht. Die Stadien der Super League und National League verzeichnen jährlich rund 3,5 Millionen Besuche. Der FC Sion prüft den Einsatz, um unerwünschte Fans am Eingang zu identifizieren und ihnen den Einlass zu verwehren. Der kantonale Datenschützer sieht darin kein Problem. Unsere Recherchen ergaben, dass auch im Stade de Genève – mit einer Kapazität von 30’000 Plätzen – über die Einführung einer automatisierten Gesichtserkennung nachgedacht wird. Im Ausland kommen entsprechende Systeme bereits sporadisch zum Einsatz und sind umstritten. Etwa in Brøndby oder am Finalspiel der Champions League 2017 in Cardiff.

Ohne Transparenz keine Rechenschaft

Doch es gibt auch gute Nachrichten. Bei den etwas auskunftsfreudigeren Unternehmen kommt offenbar nirgends automatisierte Gesichtserkennung zum Einsatz. Lidl erachtet einen Schritt zur automatisierten Videoüberwachung als «nicht notwendig». Der Migros Genossenschaftsbund, gibt an, dass «eine Gesichtserkennungsfunktion unseres Wissens in keiner Genossenschaft eingesetzt und auch nicht geplant» sei. Die SBB hat zwar rund 15’000 Videokameras in Bahnhöfen und Zügen, verwendet aber keine Gesichtserkennung und habe «das auch künftig nicht vor».

Am Flughafen Zürich gibt es bekanntlich eine automatisierte Passkontrolle mit Gesichtserkennung. Ansonsten kommen keine automatisierten Tools zum Einsatz. Auch die Post lässt verlauten, keine Gesichtserkennung zu verwenden – wie die meisten anderen wollen sie aber «aus sicherheitstechnischen Überlegungen» keine Informationen zu den «Technologien, die bei uns im Einsatz sind oder kommen könnten», geben.

Interessant ist die Haltung von Ikea: Dort sieht man die eigene Aufgabe nicht darin «Personen zu identifizieren», sondern mögliche Vorfälle zu untersuchen. Die Ermittlung allfälliger Straftäter·innen sei «Sache der Polizei». Entsprechend nutze man auch keine Online-Plattformen wie PimEyes, wo Nutzer·innen nach Gesichtern suchen können. Man sehe die «damit verbundenen Risiken, die diese Technologien für die Rechte und Freiheiten des Einzelnen darstellen».

Die einzige Ausnahme bildet das Shopping Mall Rosenberg in Winterthur, wo ein entsprechendes System «in der Testphase» sei. Weitere Auskünfte darüber wollten die Verantwortlichen aber auch hier nicht geben.

Gerne hätte AlgorithmWatch mit den Firmen darüber gesprochen, warum auf Gesichtserkennung verzichtet wird. Oder welche Überlegungen zu Privatsphäre, Datenschutz, Diskriminierung und weiteren Grundrechten in die Auswahl von Überwachungsmethoden einfliessen. Doch alle angefragten Unternehmen wollten keine weitere Stellung beziehen.

Hinter verschlossenen Türen werden also unterschiedliche Systeme angewandt, ohne dass die Kundschaft und Öffentlichkeit Genaueres dazu erfährt – ein Hinweis auf Videoüberwachung ist hier längst nicht mehr genug. Denn mit heutiger Soft- und Hardware lassen sich problemlos weit mehr als bloss Videoaufnahmen anfertigen. Viele in der Schweiz zum Einsatz kommenden Systeme – zum Beispiel die Kameras von Hikvision – sind mit intelligenten Funktionen ausgestattet. Werden diese auch genutzt? Und wenn ja, in welchem Kontext und zu welchen Zwecken?

Transparenz sucht man in diesem grundrechtlich sensiblen Bereich vergebens. Die Versuche, Licht ins Dunkel zu bringen, werden mit Verweis auf Betriebsgeheimnisse abgewimmelt.

Rechtslage im Wandel

Statt sich in Schweigen zu hüllen, könnten sich Unternehmen in diesem Bereich proaktiv positionieren und von schweren Eingriffen in die Grundrechte absehen. Ohnehin dürfte die Verwendung von Gesichtserkennung in der Schweiz rechtlich erschwert werden. Gemäss EU-Datenschutzgrundverordnung sind biometrische Daten, die «eine Person eindeutig identifizieren» – wie sie unter Umständen auch bei Gesichtserkennung anfallen – bereits «besonders schützenswert». Ähnlich steht es im bald in der Schweiz in Kraft tretenden revidierten Datenschutzgesetz.

Klar ist: Der Eidgenössische Datenschutz und Öffentlichkeitsbeauftragte (EDÖB) hält den Einsatz von automatischer Gesichtserkennung und intelligenter Kameras im Detailhandel für unverhältnismässig. Doch die Rechtslage ist nicht völlig geklärt.

Aber auch dann braucht es Transparenz darüber, welche Systeme wo zu welchem Zweck eingesetzt werden und ob sie tatsächlich auch funktionieren. Bei der Polizei gibt es immerhin ein gewisses Mass an demokratischer Aufsicht. Bei privaten Unternehmen ist diese nicht vorhanden. Die Recherche von AlgorithmWatch zeigt, dass Transparenz schwierig zu erreichen ist. Es bleibt unbekannt, wo welche Systeme zum Einsatz kommen, wie diese funktionieren und ob nur jene Daten gesammelt und bearbeitet werden, die nötig und gesetzlich erlaubt sind.

Petition zum Verbot von biometrischen Massenüberwachung in Schweizer Städten

AlgorithmWatch CH fordert, den Einsatz von Gesichtserkennungssystemen im öffentlichen Raum in Schweizer Städten zu verbieten. Gemeinsam mit Amnesty International Schweiz und der Digitalen Gesellschaft haben wir dazu eine Petition lanciert – unterzeichnen Sie jetzt und schützen Sie unsere Grundrechte! Weitere Informationen: gesichtserkennung-stoppen.ch

AlgorithmWatch CH ist ebenfalls Teil von Reclaim Your Face, einer zivilgesellschaftlichen Initiative für das Verbot von biometrischer Massenüberwachung: https://algorithmwatch.ch/de/reclaim-your-face-kampagne/  

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