Biometrische Erkennung im öffentlichen Raum – eine Bedrohung für die Menschenrechte
In Flughäfen, Fussballstadien oder bei der Strafverfolgung werden Gesichtserkennungs- und andere biometrische Erkennungssysteme in der Schweiz immer häufiger eingesetzt. Wenn diese Systeme zu Identifizierungszwecken an öffentlich zugänglichen Orten eingesetzt werden, sind sie mit den Grundrechten und Menschenrechten unvereinbar, insbesondere mit dem Recht auf Privatsphäre, der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und dem Diskriminierungsverbot.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf humanrights.ch
In der Schweiz werden Gesichtserkennungssysteme zu Identifizierungszwecken von einigen Kantonspolizeien zu Strafverfolgungszwecken eingesetzt, etwa in den Kantonen Aargau, Neuenburg, St. Gallen und Waadt. Fedpol plant die Einführung eines Gesichtserkennungssystems ab 2026. Ebenso wurden Systeme für den Zugang zu Fussballstadien getestet. Um eine Person zu identifizieren, werden ihre biometrische Daten – wie ihre Gesichtsmerkmale oder ihre Stimme – mit einer Masse von Daten verglichen, die in einer Datenbank gespeichert sind. Diese Verwendung unterscheidet sich von der Authentifizierung, die zum Entsperren des Smartphones oder zur Passkontrolle am Flughafen verwendet wird. Im letzteren Fall wird das Gesicht mit einem vorhandenen Bild verglichen, um festzustellen, ob es sich um dieselbe Person handelt, ohne dass versucht wird, ihre Identität zu bestimmen.
Eine Verletzung von Grund- und Menschenrechten
Wenn sie im öffentlich zugänglichen Raum eingesetzt werden, um Personen zu identifizieren, führen biometrische Erkennungssysteme zu unverhältnismässigen Eingriffen in die Grund- und Menschenrechte.
Die ständige Identifizierung und Überwachung im öffentlichen Raum stellen eine Verletzung des Rechts auf Privatsphäre dar (Art. 13 BV, Art. 8 EMRK und Art. 17 UNO-Pakt II). Das Recht auf Schutz vor Missbrauch persönlicher Daten garantiert den Einzelnen das Recht zu entscheiden, in welchem Umfang persönliche Daten, die ihr Leben betreffen, offengelegt werden dürfen (Art. 13 Abs. 2 BV).
Das blosse Vorhandensein einer solchen Überwachungsinfrastruktur hat aber darüber hinaus auch eine abschreckende Wirkung: Es könnte Menschen davon abhalten, andere Grundrechte wie das Recht auf freie Meinungsäusserung (Art. 16 BV, Art. 10 EMRK und Art. 19 UNO-Pakt II) oder auf Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV, Art. 11 EMRK, Art. 21 UNO-Pakt II) auszuüben. Es könnte sie davon abhalten, an Demonstrationen teilzunehmen oder bestimmte Orte aufzusuchen, die beispielsweise Aufschluss über ihre politischen Ansichten oder ihre sexuelle Orientierung geben könnten. Dies gilt insbesondere für Personen und Gruppen, die von Diskriminierung betroffen sind – nicht zuletzt, da diese oft Überwachungsmassnahmen stärker ausgesetzt sind.
Schliesslich können diese Systeme auch diskriminierende Auswirkungen haben, da sie aufgrund der mangelnden Vielfalt ihrer Trainingsdaten Menschen dunkler Hautfarbe oder Frauen oft schlechter erkennen.
Gesichtserkennung in der Schweiz trotz unzureichender Rechtsgrundlagen eingesetzt
Im revidierten Schweizer Datenschutzgesetz (nDSG), das im September 2023 in Kraft tritt, gelten biometrische Daten als besonders schützenswert, sofern sie eine natürliche Person eindeutig identifizieren. Für die Bearbeitung solcher Daten – beispielsweise durch biometrische Erkennungssysteme – gibt es keine umfassende Erlaubnis: Eine gesetzliche Grundlage (in einem Gesetz im formellen Sinn) wäre dazu erforderlich. Gleichzeitig existiert aber auch kein explizites Verbot für ihren Einsatz. Das nDSG gilt nur für Bundesbehörden und private Akteure, nicht aber für die Kantone. Obwohl umstritten ist, ob ihre existierenden Rechtsgrundlagen dafür ausreichen, setzen einige Kantone beispielsweise Gesichtserkennungssysteme bereits im Strafverfolgungskontext ein.
Eine Verarbeitung besonders schützenswerter Daten durch biometrische Erkennungssysteme gilt als schwerwiegender Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 13 Abs. 2 BV), weshalb eine gesetzliche Grundlage in einem Gesetz im formellen Sinn erforderlich ist. Solch ein Eingriff in die Grundrechte durch Bundesbehörden oder kantonale Behörden kann zudem nur dann gerechtfertigt sein, wenn er auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, verhältnismässig ist, durch ein hinreichendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist und den Kern der Grundrechte unberührt lässt (Art. 36 BV).
Die Schweiz muss rote Linien ziehen, um die Grundrechte zu schützen
Der Datenschutz und die informationelle Selbstbestimmung bieten also einen gewissen Schutz, aber in der Praxis zeigt sich, dass er nicht ausreicht – denn die Systeme kommen trotzdem zum Einsatz. Die Schweiz muss deshalb klare rote Linien ziehen und mit den Grundrechten unvereinbare Anwendungen der biometrischen Erkennung, die eine Massenüberwachung ermöglichen, verbieten. Dazu gehört der Einsatz solcher Systeme im öffentlich zugänglichen Raum.
Darüber hinaus muss auch eine öffentliche Debatte über den Einsatz von Systemen stattfinden, die Menschen anhand ihrer biometrischen Daten in Kategorien wie Geschlecht oder Alter einteilen oder versprechen, die Emotionen von Personen zu erkennen. Ein aktuelles Beispiel: Die SBB planten eine Überwachungsinfrastruktur an Bahnhöfen, die unter anderem eine – wahrscheinlich auf biometrischen Daten basierende – Kategorisierung ermöglichen sollte, um Alter, Grösse und Geschlecht der Reisenden zu analysieren. Der starke Widerstand der Zivilgesellschaft hat die SBB dazu veranlasst, auf diesen Aspekt des Projekts zu verzichten.
Mehrere Schweizer Städte haben bereits die Verwendung von biometrischen Erkennungssystemen im öffentlichen Raum verboten und auch auf Kantonsebene wird sie diskutiert, insbesondere dank der Sensibilisierungsmassnahmen des Bündnisses «Gesichtserkennung stoppen». Eine Koalition von Organisationen der Zivilgesellschaft fordert mit der Kampagne «Reclaim Your Face» auch ein Verbot auf europäischer Ebene.
Die biometrische Erkennung zu Identifizierungszwecken im öffentlich zugänglichen Raum stellt einen schweren Eingriff in die Grund- und Menschenrechte dar. Die Städte Zürich, St. Gallen und Lausanne haben bereits ein Verbot im öffentlichen Raum beschlossen. Ein Verbot soll auch auf schweizerischer Ebene erlassen werden.